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11. August 2025

​Der Spalt in der Wand

Die Wände der Ruine waren mit Moos bedeckt, der Boden war feucht und klamm, in der Luft hing schwerer Nebel. Alles in allem war die Atmosphäre in der Ruine dieser alten Kirche nicht sonderlich einladend, doch der Wanderer streifte schon eine Ewigkeit ziellos in den Tälern der Pyrenäen umher, es gab kein Dorf in der Nähe und er brauchte eine Schlafstätte für die Nacht, also schlug er sein Lager in der Ruine auf. Die Nacht war unruhig, es war kalt und die Feuchtigkeit kroch dem Wanderer in die Glieder, sein Schlaf war nicht erholsam. Als er im Morgengrauen erwachte, begleiteten ihn dunkle Gedanken, die als Echo seiner schweren Träume in ihm nachhallten. Doch die Sonne ging langsam auf und der Nebel lichtete sich. Die Dunkelheit machte einem fahlen Licht Platz, das die dunklen Gedanken des Wanderers ein wenig besänftigte. Und plötzlich schoss ein Sonnenstrahl durch einen Spalt in der Wand der Ruine und tauchte den ganzen Raum in helles Licht. Der Wanderer sah in diesem Moment, dass der Boden voller Blumen war, er sah Vögel, die unter dem Dachfirst nisteten und er sah Schmetterlinge, die im Licht tanzten. Die dunklen Gedanken waren fort und den Wanderer überkam große Freude. Doch einen Moment später verschwand das Licht wieder, die Sonne war den Horizont weiter emporgestiegen. Die dunklen Gedanken des Wanderers kamen jedoch nicht zurück, denn er hatte gesehen, an was für einem wunderschönen Ort er tatsächlich war. Er schulterte seinen Rucksack und ging fröhlich seines Weges.

Yoga ist eine Reise zu uns selbst, und sie ist mit der Reise des Wanderers vergleichbar.

Unser Bewusstsein stellt uns vor große Herausforderungen, es erlebt schöne Dinge, wie Liebe und Freude, aber es erfährt auch dunkle Dinge, wie Ängste, Trauer, Pessimismus, Leid oder Druck. Unser Bewusstsein fühlt sich dann an, wie die Ruine, in der der Wanderer sein Nachtlager aufschlägt, dunkel, klamm und voller Nebel, sodass wir unser Umfeld nicht richtig wahrnehmen. Oft scheinen diese dunklen Erfahrungen zu dominieren und für viele Menschen ist das der Grund, Yoga zu lernen. Sie wünschen sich mehr Licht und weniger Schatten, sie suchen nach Leichtigkeit. Wenn wir Yoga üben, beginnt irgendwann die Sonne für uns aufzugehen. Es wird heller, die Dunkelheit wird besänftigt und die Schatten werden kürzer. Diese Erfahrung wird mit der Zeit stabiler und sie wird uns nicht mehr so leicht verlassen, auch in Zeiten, in denen uns das Leben mit Konflikten konfrontiert. Und wenn wir den Yogaweg nicht aus den Augen verlieren, werden wir Momente erleben, in denen für einen kurzen Augenblick strahlendes Licht durch einen Spalt fällt und alles erhellt. So wie der Wanderer in diesem Moment erkannt hat, in was für einer schönen Umgebung er war, erkennen wir in diesem Augenblick die Schönheit eines menschlichen Bewusstseins, das ganz mit sich im Frieden ist. Diese Momente sind schwer abzupassen, sie sind flüchtig und ziehen meistens unbemerkt an uns vorbei, die Yogapraxis sollte uns allerdings für diese Augenblicke sensibilisieren. Wir finden sie in der Atmung, der wir im Yoga so viel Aufmerksamkeit schenken – in den kurzen Momenten der Fülle am Ende der Einatmung und in den kurzen Momenten der Leere am Ende der Ausatmung. Wir finden sie in der Meditation, in der Stille, die sich zwischen zwei Gedanken zeigt. Und wir finden sie, wenn wir sehr sensibel sind auch im Alltag, in den Augenblicken, in denen uns etwas Außergewöhnliches begegnet und wir in tiefes Staunen verfallen. In diesen Momenten erkennen wir, dass die Leichtigkeit, die wie suchen, ein inhärenter, lebendiger Aspekt unseres Wesens ist, der jederzeit verfügbar ist. Wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, verliert die Dunkelheit ihre Kraft. Deshalb lohnt es sich, nach den Spalten in der Wand Ausschau zu halten und die Augenblicke, in denen das Licht durch sie fällt, nicht zu verpassen.

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